Erstsprache(n) – Zweitsprache(n) – Fremdsprache(n)

Vorausgeschickt sei eine Bemerkung der Bildungsstandards 2008, S. 16:

„Aufgrund der besonderen Sprachensituation in Luxemburg ist es müßig und vergebliche Liebesmüh, die verschiedenen Sprachen mit linguistischen Begriffen wie ‚Muttersprache‘, ,Fremdsprache‘, ,Erstsprache‘, ‚Zweitsprache‘, ‚Herkunftssprache‘, ‚Familiensprache‘, ‚Begegnungssprache‘, ‚Partnersprache‘, ‚Umgebungssprache‘ usw. ‚einfangen‘ zu wollen." S. dazu unten mehr.

Dennoch stellt sich die Frage, was diese Begriffe bedeuten und ob sie einzelne Aspekte der komplexen Mehrsprachigkeit in Luxemburg beleuchten können, ohne den Anspruch, damit das interagierende Ganze einer integrierten Mehrsprachigkeit zu erklären. Die Funktion, die einzelne Sprachen jeweils für Individuum und Gesellschaft übernehmen können, wird aus den hier beschriebenen Standardfunktionen vielleicht besser sichtbar, ebenso die luxemburgischen Besonderheiten der integrierten Mehrsprachigkeit und der sprachlichen Ausgangslage.

Sprachen werden erworben als

  • Erstsprache: Das ist die Sprache, die das Kind im Mutterleib hört, als erste Umgebungssprache wahrnimmt und in der es das Sprechen lernt. Das Wort „Erstsprache" bezeichnet die Reihenfolge im Sprachenlernen; für diese erste Sprache wird auch das Wort „Muttersprache" gebraucht. Sprachwissenschaftler vermeiden meist das Wort „Muttersprache", weil es kein neutrales Wort ist, sondern emotionale Konnotationen mitbringt und weil es missverständlich sein kann (als ‚Sprache der Mutter‘ im Gegensatz zur ‚Sprache des Vaters‘ bei Zweisprachigen; als emotionsgeladen in der Konstellation ‚Muttersprache – Vaterland‘). – In der Erstsprache lernt ein Kind zu sprechen und sich durch sprachliche Symbole (Wörter und Texte für Gemeintes) im Kontext auszudrücken.
  • Doppelte Erstsprachen: Immer mehr Kinder wachsen in zwei- oder mehrsprachigen Familien oder in mehrsprachiger Umwelt auf und hören schon vor der Geburt zwei (oder mehr) Sprachen. Sie erwerben diese Sprachen simultan / gleichzeitig als zwei Erstsprachen, wenn beide in der Familie oder im nahen Umfeld gebraucht werden. Der Spracherwerb verläuft in beiden Sprachen ähnlich dem einer einzigen Erstsprache, oft aber mit Mischungen und mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. Die Sprache, die dem Kind intensiver begegnet, wird meist dominant ausgebaut. Im Laufe des Lebens kann sich durch lebensweltliche Einflüsse ändern, welche Sprache dominant wird. Annähernd ausgeglichene Zweisprachigkeit ist ebenfalls nicht unmöglich.
  • Zweitsprache, Drittsprache: Nach Abschluss des grundlegenden Sprechenlernens einer Erstsprache (mit 3-4 Jahren) lernt das Kind eine neue Sprache in seiner Umgebung, in der diese Sprache als Verkehrssprache gebraucht wird. Dabei ist dem Kind schon bewusst, dass es eine (neue oder schon vom Klang bekannte) Sprache zu sprechen lernt. Es muss in dieser Sprache handlungsfähig werden, damit es im Land dieser Sprache selbständig leben und am öffentlichen Leben teilhaben kann.
    In Luxemburg lernen Kinder mit der Erstsprache Portugiesisch oder Italienisch usw. spätestens ab Zyklus 1 Luxemburgisch / Lëtzebuergesch als Zweitsprache.
    Kinder mit Erstsprache Lëtzebuergesch sind über die Medien mit Deutsch bereits in Kontakt gekommen; sie lernen in Zyklus 2 Deutsch als Unterrichtssprache (zweite Sprache) und später als dritte Sprache (Drittsprache, Tertiärsprache) das Französische ab Zyklus 3, das sie evtl. schon in der Umgebung wahrgenommen haben.

Deutsch in Zyklus 2 ist die dritte Sprache für Kinder mit portugiesischer, italienischer, niederländischer… Erstsprache, und Französisch (von Zyklus 3 an) ist ihre Viertsprache.
Während man davon ausgeht, dass Kinder unter etwa fünf Jahren die zweite Sprache ähnlich der Erstsprache lernen, also über das Hören, Imitieren und Interagieren im natürlichen Dialog mit reichem Input, scheinen Kinder mit zunehmendem Alter etwas weniger das Hören zu nutzen als sich verstärkend kognitive Strategien (Schrift, Kontextverstehen, bewusste Analogien und bewusstes Einprägen…).

  • Bildungssprache: Sprache, in der die (schulische) Bildung erfolgt; in Luxemburg sind das vor allem Deutsch und Französisch sowie zunehmend Lëtzebuergesch.
    Schulischer Sprachgebrauch: Die Sprache der Unterrichtsorganisation sowie Fachsprachen und die Bildungssprache überschneiden sich in der Schulzeit weitgehend. Die Bildungssprache umfasst die Schriftsprache und die gehobene Alltagssprache, in der über Bildungs- und Wissenschaftsinhalte gesprochen wird. Sie entspräche ungefähr der Cognitive Academic Language Proficiency (CALP, im Gegensatz zu BICS Basic Interpersonal Communicative Skills) bzw. der Sprache in der Welt des systematischen Wissens.
    In Luxemburg werden der Idee nach alle Sprachen, in denen Unterrichtsinhalte vermittelt werden, zu Bildungssprachen ausgebaut. Möglicherweise erreichen nicht alle Schüler/-innen in jeder der Sprachen das Niveau einer voll ausgebauten Bildungssprache.
  • Fremdsprache: Kinder lernen eine andere Sprache durch Unterweisung im Sprachkurs oder in der Schule mit Lehrmaterialien. Anfangs steht alltagssprachliches Lernen im Vordergrund (Kontakt schließen, Alltagsleben), das mit höheren Jahrgangsstufen mittels Lektüre und fachbezogenen Unterricht bildungssprachlich wird.
    Die Fremdsprache ist meist nicht Umgebungssprache, kann aber dazu werden, wenn die Person in einer entsprechenden Umgebung lebt. Der Übergang ‚von der Fremdsprache zur Zweitsprache‘ ist fließend; es kommt auf die Lernsituation und die Ziele an. Deutsch und Französisch werden in Luxemburg zu Beginn ähnlich einer fremden Sprache unterrichtet, werden aber in der Umgebung gesprochen. Sie entwickeln sich daher oft weiter zu lebensweltlichen Sprachen (in bestimmten Gruppen eher Französisch) und zu Bildungssprachen (Französisch; Deutsch im Schrift- und Medienbereich).

In Luxemburg haben die Nationalsprachen Lëtzebuergesch, Deutsch und Französisch komplexere als die hier typologisch beschriebenen Rollen, wie die Bildungsstandards Sprachen 2008, S. 16 deutlich machen:

Lëtzebuergesch als Erstsprache ist Basissprache für Kinder aus altansässigen Familien und bleibt ihre lebensweltliche Sprache, selbst wenn Bildung meist in anderen Sprachen vermittelt wird.

Deutsch wird nicht als Fremdsprache angesehen wegen der engen Verwandtschaft zum Luxemburgischen und nicht als Zweitsprache wegen der geringen Relevanz in informellen lebensweltlichen Kontexten. Es ist Mediensprache und Alphabetisierungssprache sowie primäre Unterrichtssprache in der Primärschule und Sekundarstufe I und daher eine Zeitlang die schulische Fachsprache, außerdem eine der Nationalsprachen.

Französisch wird in der Primärschule als eine Art Fremdsprache unterrichtet, ist in der Sekundarstufe jedoch zunehmend Unterrichts- und Fachsprache und kann eine der Zweit- bzw. Hauptsprachen werden, da es auch im öffentlichen Leben präsent und eine der Nationalsprachen ist.

Man erkennt in der Gesellschaft eine sich verstärkende Tendenz, Lëtzebuergesch nicht nur im Nahfeld (Familie und Freunde) und in inoffiziellen Situationen, sondern auch in offiziellen Situationen zu gebrauchen und im Schriftverkehr zu benutzen. Damit wird diese Sprache zur „Vollsprache" mit privaten und öffentlichen Registern und Verwendungsbereichen ausgebaut und erfüllt die Aufgaben einer Nationalsprache oder Amtssprache. Handikap bleibt der geringe Kommunikationsradius im Innern (Zuwanderer mit anderen Sprachen; dieses Problem kennen alle Länder mit Zuwanderung) und nach außen (in der Großregion).

Das Institut de Formation continue empfiehlt die folgenden Weiterbildungsangebote: